Casting
Das Entwicklungspotential meiner Schauspielkarriere war von Anfang an immens. Was die Größe der Rollen betraf.
Meine Schwester und ich genossen eine christlich-pragmatische Erziehung: Während wir pflichtbewusst im sonntäglichen Kindergottesdienst die gefährlichen Stolpersteine auf dem schmalen Weg zur Moral kennen lernten, hatten unsere Eltern zu Hause endlich einmal die Gelegenheit, die nicht minder spektakulären Orte jenseits dieses Pfades ungestört zu erkunden. Also mussten wir schon allein um den Erhalt der Familienidylle zu gewährleisten, regelmäßig zur Kirche gehen und so war es unumgänglich, dass ich meine ersten Castingerfahrungen bei der Rollenvergabe des alljährlich stattfindenden Krippenspiels sammelte.
Bei diesem Besetzungsvorgang lernte ich schnell, dass Gott vielleicht gerecht sein mag, die Welt es aber noch lange nicht ist. Oder mit Woody Allen zu sprechen: Gott würfelt nicht, er spielt Mensch ärgere Dich nicht.
Obwohl ich Schäflein wirklich sehr sehr brav und redlich das ganze Jahr über mit gespitzen Ohren den idiotensicheren Parabeln der besseren Menschen gefolgt war, fand zum Höhepunkt des Kirchenjahres die von mir so sehnlich erwünschte Inkarnation in ein zweibeiniges Wesen mit todsicherer Regelmäßigkeit nicht statt. Nein, Maria war ich nie. Ich war Ochs und Esel und Hirtenhund, ich war Schaf, der dritte Baum von links und einmal sogar das Hinterteil eines Kamels. Und nein, es waren nicht die Rollen, die ich mir schon immer erträumt hatte.
Für die Rollen mit aufrechtem Gang wurden indes irgendwelchen gutsituierten Mädchen mit hübschen Löckchen und wohltemperierten Wangen bedacht oder Knaben, die mit ihrer olympiareifen Mittelmäßigkeit ganz offensichtlich einen möglichst reibungslosen Ablauf der Proben versprachen. Keines dieser Kinder hatte ich die vergangenen 48 Sonntage auch nur einmal in der verlässlich unterkühlten Kirche gesehen. Krampfhaft positiv gesehen, waren so meine Fellrollen ja vielleicht auch einfach nur ein versöhnliches Zugeständnis des pietistischen Personals, ein Versuch mich wenigstens am Heiligen Abend in der Kirche einmal nicht frieren zu lassen.
Und doch glaube ich nicht, dass jene von mir so beneideten Solisten nach dem Weihnachtsgottesdienst und all den Lorbeeren für ihr "einmalig" gelungene Darstellung für weitere 48 Wochen allein aus Temperaturgründen wieder in der Versenkung verschwanden. Sie kamen auch nicht im Fegefeuer. Sie genossen es einfach wieder Sonntags auszuschlafen, die Sendung mit der Maus zu schauen und dabei Süßigkeiten zu essen, sich im Anschluss herzhaft und wohl verdient mit ihren Geschwistern zu streiten oder wegen anderer Lapalien von ihren Eltern trösten zu lassen. Diese waren ja nicht mit etwas anderem beschäftigt. Es war für mich auch nur ein kleiner Trost, dass diese Kinder so ganz sicher nichts zum Erhalt der Familienidylle beitrugen. Und dieser kleine Trost eliminierte sich ganz , als sich unsere Eltern, trotz all unserer Anstrengungen und nach vielen bitteren Worten, scheiden ließen, während diese Familien immer noch gänzlich unversehrt schienen und darüber hinaus mittlerweile diverse weitere Generationen für den Hauptcast produziert hatten. Wann auch immer.
Irgendwann später dann, trat ich aus der Kirche aus. Nicht aus Rache. Ich musste wegen einer Scheidung eh auf´s Amt um meine Lohnsteuerklasse zu ändern und dachte, dass ich mir, für den Fall, dass ich je beschließen würde aus der Kirche auszutreten, diesen Gang ja jetzt schon abnehmen und ein weiteres Anstehen sparen konnte. Und ich dachte mir gleichzeitig, wenn ich je wieder das dringende Bedürfnis haben sollte, ein Teil dieses Clubs zu sein, es groß genug sein müsste um die Bürde des Anstehens doch noch einmal auf mich zu nehmen. All das hat sich bis jetzt als effizienter Einfall bewiesen.
Ein bisschen ein schlechtes Gewissen habe ich natürlich trotzdem, wenn ich nun einmal im Jahr an Weihnachten in der Kirche sitze und meine Seele mit Tränen der Rührung nähre, da meine Tochter im schlecht sitzenden Kunstpelz unvergleichlich beherzt durch den Altarraum trabt. Sie ist übrigens ganz glücklich über diese vierbeinigen Rollen ("da kann zwischendurch sitzen und muss keinen Text lernen") und sagte mir bei einem dieser Anlässe auch, dass sie nie niemals Maria spielen wollte: "da muss man so schön und heilig sein." Ich weiß, wovon sie spricht. Obwohl ich finde, sie wäre eine wundervolle Maria. Eine sicherlich recht impulsive und dickköpfige, jedoch auch bewundernswert starke und aus tiefer Leidenschaft leuchtende Maria. Nicht unbedingt ein Typcasting. Dafür jedoch eine so offenherzigen und furchtlose Besetzung, dass es für mich sogar Sinn machen würde, noch einmal anzustehen. Nicht nur, weil es meine Tochter ist.